Die Revolution aufs Neue erfinden Die Situationistische Theorie - eine Aneignung. Und Anregung? Von Moe Hierlmeier Als sich die Situationistische Internationale (SI) 1957 gründete, erschien nichts ferner als der Gedanke an eine Revolution in den westlichen kapitalistischen Staaten. Revolutionen schienen nur noch eine Sache der antikolonialen und antiimperialistischen Befreiungsbewegungen im Trikont zu sein. Doch genau mit dieser Situation wollte sich die SI nicht abfinden: "Die Revolution ist aufs neue zu erfinden, das ist alles." Sie suchten beständig nach dem Riss in der Gesellschaft, wollten Situationen (daher ihr Name) schaffen, die eine Revolution unumkehrbar machten. Da die alten linken Bewegungen Teil des Problems waren, galt es ihre Vorstellungen von Befreiung zu verlassen. Stattdessen musste man "absolut modern" sein und jede scheinbare Autorität und Gewissheit hinterfragen. Nur so glaubte man, die bisher unentdeckte Nordwestpassage der Revolution finden zu können. In dem nun in der Reihe "theorie.org" erschienenen Buch über die Situationistische Revolutionstheorie begeben sich Biene Baumeister und Zwi Negator noch einmal auf die Suche nach wichtigen Stationen dieser Reise. Dabei konzentrieren sie sich auf die Theorie von Guy Debord, einem der bedeutendsten Mitglieder der SI. Herausgekommen ist ein hochaktuelles Buch, das deutlich macht, warum es der SI gelang, während der 60er Jahre und vor allem im Mai 1968 in Paris der Katalysator der Begierden einer Epoche zu sein. Warum ist dies gerade einer kleinen Gruppe von Aktivisten und avantgardistischen Künstlern gelungen? "Wir haben einfach Öl hingebracht, wo Feuer war", so Debord. Das Feuer bestand in der Unzufriedenheit vieler Menschen mit der gesellschaftlichen Situation. Die SI zeigte auf, warum dies so war. Im Rückgriff auf die Analysen von Marx, Hegel, Lukacs, Freud oder Benjamin machte sie deutlich, warum die kapitalistische Warengesellschaft, das die SI als Gesellschaft des Spektakels analysierte, systematisch die Bedürfnisse der Menschen im Alltag für ihre Verwertungsinteressen funktionalisierte und entfremdete. Die Chiffre "Club Méditerranée" stand für die Verbunkerung des Lebens. Die Nachkriegsordnung mit ihrer verlogenen (Alltags-)Kultur war für die SI in jeder Beziehung eine Trümmerlandschaft. Ohne die Zerstückelung des Lebens und die im Alltag tagtäglich reproduzierte Entfremdung zu bekämpfen, war für sie die Revolution nicht zu denken. Die Entfremdung in der Großstadt wurde zum beherrschenden Thema. Ihre Analyse des Lebens im Straßburger Studentenmilieu löste einen Skandal aus. Trotz aller Versuche und Zerstückelungen gelingt es dem Kapital aber nie, sich die Bedürfnisse völlig einzuverleiben. Die alltäglichen Begierden nach Autonomie treiben immer wieder über das Spektakel hinaus und sind deshalb potenziell revolutionär. Hier sind die Überschneidungslinien mit der Revolutionstheorie von Herbert Marcuse am deutlichsten. Das große Verdienst der SI war, auf die Bedeutung des Alltags für die Emanzipation aufmerksam gemacht zu haben. Biene Baumeister und Zwi Negator machen es ihren Lesern nicht leicht. Dies gilt vor allem für den Teil, in dem die Bedeutung der Marxschen Wertformanalyse für die situationistische Gesellschafts- und Revolutionstheorie herausgearbeitet wird. Dafür wird man im Folgenden reichlich belohnt. Deutlich wird, wie sensibel die SI die Stimmungsveränderungen in den kapitalistischen Gesellschaften wahrnahmen, die dann im Mai 68 explodierten. Hier wurden systemtranszendierende Begierden zu einer geschichtsmächtigen Kraft. Die Fragen und Impulse der SI haben kaum an Aktualität eingebüßt. Wie ist heute unter den Bedingungen einer liberalen Kontrollgesellschaft Emanzipation zu denken? Und was könnte eine geeignete Form der Organisierung sein? Dies durfte für die SI nicht zum Selbstzweck werden, sondern sie musste aus dem wirklichen Leben hervorgehen und in ihr verankert sein. Ihre Aufgabe besteht in der konkreten Erforschung der Begierden der jeweiligen Zeit. Ohne diese bleibt die Theorie der Praxis abstrakt und wird letztendlich selbst spektakulär. Jede Opposition und subversive Strömung kann rekuperiert werden, selbst Teil der Gesellschaft des Spektakels werden. Die Transformation der Grünen von der alternativen Systempartei zur ökomodernisierten neoliberalen Partei der aufgestiegenen Mittelschichten ist ein Beispiel dafür. Aber auch der Punk wurde ästhetisch rekuperiert. Und auch die SI konnte sich nach 68 diesem Prozess nicht ganz entziehen. Dies war neben den diversen Spaltungen einer der Gründe, weswegen sie sich 1972 auflöste. Die SI wollte keine Nachbeter. Sie wusste, dass ihre Positionen angreifbar sind. Wie für Brecht, den sie sehr schätzten, konnten Theorie und Praxis nichts anderes als Versuchsanordnungen sein, mit deren Hilfe es galt, den Möglichkeitsraum beständig aufs Neue auszuloten. Dazu musste man auch die Geschichte der proletarischen Bewegungen immer wieder auf ihre Bedeutung für die Jetztzeit abklopfen. Eine solche Kritik darf aber nicht vom Hochstand der Geschichte aus gefällt sein. Sondern sie muss ehrlich sein und die Bedingungen der jeweiligen Zeit reflektieren. Eine solche ehrliche Kritik wünschte die SI auch für sich selbst. Dies leisten die Autoren weitgehend. Gewünscht hätte sich der Rezensent einige Hinweise darauf, wo heute Fluchtlinien der Emanzipation liegen könnten. Dessen ungeachtet ist dieses Buch eine Pflichtlektüre für alle, die die Geschichte der neuen Linken verstehen und sich mit den Gegebenheiten nicht abfinden wollen.